KOLUMNE
Schweben und schweben lassen: Wunschort Balkon
Balkon wäre toll! So steht es in jeder zweiten Wohnungsannonce als hoffnungsvoller Schlussakkord. Alle wollen einen. Aber anders als beim Thema Badewanne ist der beste Balkon eigentlich immer der, den man noch nicht hat. Denn in Gedanken ist es ein herrlicher Ort: Hängender Garten, Selbstversorgungsplantage, Yoga-Plattform, Ersatzurlaub, Grillakademie – alles ist möglich. Dass die Realität das nicht ganz hergibt, weiß aber jeder, der mit offenen Augen durch die Stadt geht: Von zehn Balkonen ist vielleicht einer wirklich liebevoll bespielt. Die anderen sind entweder so kahl und unbenutzt, dass man sie bei ebay als „Neu“ verkaufen könnte, oder es hat sich dort im Laufe der Jahre das übliche Treibgut angesammelt: Aufgegebene Basilikumtöpfe, Radfahrtrikots zum Auslüften, leere Getränkekisten, volle Aschenbecher, kopulierende Tauben und feuerpolizeilich evakuierte Pfannen. Die Möblierung umfasst oft nur einen weißen Plastiktisch und einen traurigen Liegestuhl, der noch nie das Meer gesehen hat.
Was ist los mit den blühenden Landschaften im dritten Stock? Als krisengebeutelter Balkonist sage ich: Die Sache ist eben kompliziert. Da ist zum einen die Halböffentlichkeit, der Balkon ist ja im wahrsten Sinne ein Aushängeschild. Man betritt ihn wie eine Freiluft-Bühne und alles, was man dort inszeniert, ist auch eine Botschaft für die Umgebung. Das kann stressen, so sehr, dass man es irgendwann vorzieht, sich doch lieber im Park zu sonnen statt auf dem Präsentierteller. Andere scheitern am Gartenbau, was keine Schande ist – Städter*innen haben traditionell andere Talente und das Mikroklima im dritten Stock ist kniffliger als im Vorgarten. Auch wenn jedes Jahr neue Sachbücher üppige Gemüseernte auf engem Raum versprechen – es gehört viel Frustrationstoleranz dazu, wenn man mehr ernten will als die üblichen drei Tomaten. Und sackweise Bioerde durch die Wohnung zu wuchten und im Herbst eine Tonne Grünmüll zu entsorgen, das überlegt man sich auch jedes Jahr länger.
Ich glaube aber, vor allem haben viele den Balkon als Wunschort so überfrachtet, dass sie gar nicht wissen, wo anfangen. Oder sind mit zu großen Ambitionen gestartet und in irgendeinem Zwischenstadium hängen geblieben. Ich habe zum Beispiel hübsche Pflanzkästen erworben, in denen aber seit zwei Jahren nur das erblüht, was zufällig vom Vogelfutter des Nachbarn reinfällt. Mein Vorsatz für diesen Frühling deshalb: Weniger planen, Perfektionismus und Nachbarn ausblenden und dafür häufiger wirklich draußen sitzen. Denn Balkon ist kein Ort, sondern ein Lebensgefühl.
Text: Max Scharnigg
Illustration: Dirk Ritterberger
Mehr Kolumnen
Seit fünfzehn Jahren schreibe ich über perfekte Häuser und Interieurs, lese ich in meiner Freizeit Blogs über perfekte Häuser und Interieurs und kaufe in nicht haushaltsüblichen Mengen schwere Bücher, in denen es entweder um perfekte Häuser oder perfekte Interieurs geht.
Wie die meisten Menschen habe ich im ersten Lockdown mit dem Brotbacken angefangen. Anfangs war das wohltuend – knetende Ablenkung und sonntags stand frisches Brot auf dem Tisch. Dann wurde es kompliziert.