Inga Sempé: "Man muss nicht von der eigenen Arbeit überzeugt sein"

Sie geht gerne auf den Flohmarkt und entwirft am liebsten Leuchten, aber die großen Meister der Designgeschichte? „No!“ Die interessieren sie nicht. Die französische Gestalterin Inga Sempé hat keine Angst davor, unbequem und unangepasst zu sein. Und sie widerspricht gerne. Wir haben Sempé in ihrem Studio in Paris besucht und mit ihr über zu wenig Geld und zu viel Selbstbewusstsein geredet.

Text: Jasmin Jouhar

Warum sind Sie ursprünglich Designerin geworden?
Ursprünglich? Warum wollen nicht alle Menschen Designer werden, denn wir sind doch alle die ganze Zeit von Gegenständen umgeben. Und nicht von Tieren oder Pflanzen, als würden wir im Wald leben. Ich wundere mich immer darüber, dass Journalist*innen das in einem Interview fragen.

Aber die meisten Menschen beachten die Dinge um sie herum doch kaum, außer sie funktionieren nicht richtig oder gehen kaputt.
Das stimmt. Aber ich habe schon als Kind meine Eltern beobachtet, wenn sie gezeichnet haben und ihnen etwas nicht so gelungen ist, wie sie es wollten. Oder nehmen Sie ein Buch, die meisten Menschen denken nicht darüber nach, wie viel Arbeit darin steckt, wenn sie es kaufen, etwa die Auseinandersetzungen mit den Verlegern und Druckern. Ich war mir dessen immer bewusst. Alles, was gut aussieht, braucht harte Arbeit, um gut auszusehen.

Was hat Ihr Designverständnis noch geprägt?
Meine Ausbildung begann als Kind meiner Eltern, die sehr entschieden in ihren Geschmacksurteilen waren, darin, was ihnen gefiel oder nicht gefiel. Mit meiner Mutter gingen wir oft auf den Flohmarkt. Meistens auf den Marché Puces de Vanves im Süden von Paris, wo wir wohnten. Ein sehr sympathischer, kleiner und einfacher Flohmarkt, ich gehe heute noch manchmal hin und ich schaue mir all die Alltagsgegenstände an. Manchmal kaufe ich auch was, oft kleine Dinge, aber meistens schaue ich nur. Das ist meine Kultur, mein visuelles Wissen habe ich auf dem Flohmarkt erworben. Früher habe ich auch viel auf eBay recherchiert. Mit einer kurzen Suche sieht man alle Produkte einer bestimmten Typologie, auch die, die längst nicht mehr hergestellt werden – ohne Hierarchie, ohne Beurteilung. Ich bin an den Objekten selbst interessiert, nicht an der Kultur des Designs.

Was meinen Sie damit?
Entweder ich mag ein Objekt oder nicht, aber ich lese keine Bücher über Design. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie die berühmten Entwürfe von Mies van der Rohe oder Achille Castiglioni heißen und von wann bis wann und von wem sie produziert wurden. Ich interessiere mich nicht für die „großen Meister“, ich mag es nicht, wenn es zu akademisch wird. An der Hochschule habe ich nie die Designgeschichtsvorlesungen besucht.

Was hat Sie denn im Studium am meisten interessiert?
Als ich an die Hochschule kam, wusste ich nichts über Materialien. Ich konnte gut nähen und mit Papier umgehen, aber sonst hatte ich kein Wissen über Herstellungstechniken, das lernt man nicht auf Flohmärkten. Das war das einzige, was mich an der Hochschule interessiert hat, was ich unbedingt lernen wollte. Ich war viel in den Werkstätten, habe mit Holz, Metall und Kunststoff gearbeitet.

Inga Sempé

Die 56-Jährige ist nicht nur Frankreichs bekannteste zeitgenössische Gestalterin. Sie gehört auch zu den wenigen Frauen ihrer Generation, die sich international durchgesetzt haben. Sempé entwirft Möbel, Leuchten und Alltagsgegenstände für Unternehmen wie Wästberg, Hay, Alessi oder Reform. Ihre Eltern sind die dänische Künstlerin Mette Ivers und der französische Zeichner Jean-Jacques Sempé.

Nach dem Studium haben Sie sechs Monate im Studio des australischen Industriedesigners Marc Newson gearbeitet.
Ja, er hatte damals ein Studio in Paris und hat kaum Geld verdient. Bei ihm habe ich sehr viel gelernt, denn ich war verantwortlich dafür, einige seiner Entwürfe bis zur Serienreife zu entwickeln. Dadurch habe ich erfahren, dass man als Designer*in jeden Schritt der Herstellung nachvollziehen können muss. Ansonsten kann es passieren, dass dein Entwurf von anderen Leuten verändert wird. Man muss keine Ingenieurin sein, aber man muss sich mit den Herstellungsverfahren auseinandersetzen und verstehen, was möglich ist und was nicht. Wenn dann jemand aus der Industrie sagt, das geht nicht, dann weiß man, ob die Person nur ein bisschen faul ist, oder ob sich ein Entwurf so wirklich nicht umsetzen lässt.

Wie wichtig ist Ihnen die Zusammenarbeit mit Herstellern aus der Industrie?
Unternehmen zu besuchen, Fabriken anzuschauen, das ist für mich der interessanteste Teil der Arbeit. Zu Ausstellungseröffnungen gehe ich dagegen nie. In der Fabrik sieht man die Menschen bei der Arbeit, an den Maschinen, man spürt, wie die Stimmung ist, man lernt die Kultur eines Unternehmens kennen. Das ist auch das Tolle daran, mit italienischen Firmen zusammenzuarbeiten. Man sieht meistens den Ort, wo die Gegenstände hergestellt werden. Ich kann dort Dinge ausprobieren und merke gleich, ob ein Entwurf so produziert werden kann, wie ich möchte, oder nicht.

7 Fragen an Inga Sempé

Welche Art von Produkt entwerfen Sie am liebsten?
Ich interessiere mich wirklich sehr für Leuchten. Das ist eine der wenigen Produkttypologien, die sehr klein, aber auch sehr groß sein kann, wie eine Leuchte für einen Bahnhof. Viele Designer*innen sind besessen davon, Stühle zu entwerfen. Doch Stühle haben immer dieselben Proportionen. Sie müssen zum Hintern der Menschen passen, da gibt es wenig Variationsmöglichkeiten. Aber Licht ist ein riesiger Kosmos, ich könnte jedes Jahr viele Leuchten entwerfen!

Sie haben bereits mehrere Leuchten für Wästberg entwickelt. Warum arbeiten Sie gerne mit dem schwedischen Unternehmen zusammen?
Vor vielen Jahren war ich mal auf der Möbelmesse in Stockholm unterwegs. Dort entdeckte ich den Stand eines Leuchtenherstellers, der interessant aussah – das war Wästberg. Aber ich habe mich nicht getraut, hinzugehen. Ein paar Monate später rief Magnus Wästberg an und bat um ein Treffen. Das hört sich jetzt wie ein Märchen an, weil es nie so läuft. Aber mit Wästberg war es genau so. Wir saßen in einem Restaurant, ich skizzierte auf einer Papierserviette eine Leuchte, die ich schon lange im Kopf hatte. Und er sagt, okay, machen wir. Und dann ging alles sehr schnell, nach einem Jahr war die Leuchte fertig und in Produktion. Das läuft sonst wirklich nie so. Magnus liebt Licht und Leuchten, schon sein Vater hatte ein Unternehmen in der Branche.

Warum geht es sonst meistens nicht so schnell?
Die Herstellung von Leuchten ist nicht einfach, es gibt sehr viele Regeln und Normen. Und die Standards ändern sich von Land zu Land, das ist sehr kompliziert. Wenn ich an meine erste Leuchte für Wästberg denke, wie sehr sich die Leuchtmittel seitdem weiterentwickelt haben. Und die LEDs kommen aus China, damit muss man leben. Seit die Glühbirne verschwunden ist, ist es schwieriger geworden.

Für die dänische Marke Hay haben Sie auch schon Leuchten und andere Produkte entworfen.
Rolf und Mette (die Gründer von Hay, Rolf und Mette Hay) lieben Dinge wirklich, egal, ob es eine kleine Büroklammer ist oder ein ganzes Schranksystem. Mit ihnen zu arbeiten heißt, mit zwei Menschen mit einer echten Leidenschaft für Dinge zu arbeiten. Im Design erreicht man sowieso die besten Ergebnisse, wenn man direkt mit der Leitung eines Unternehmens zu tun hat.

Haben Sie viele Ihrer eigenen Entwürfe zu Hause?
Neue Leuchten kaufe ich jedenfalls nicht, ich habe wirklich genug Leuchten (lacht). Wenn überhaupt, würde ich sowieso nur eine Leuchte vom Flohmarkt kaufen. Ich kaufe generell fast nichts Neues, auch nicht Bekleidung.

Fühlen Sie sich manchmal gefangen in der Welt der Möbel und schönen Objekte?
Nicht unbedingt gefangen, aber es ist schon eine Welt für sich. Für manche ist Gestaltung deswegen vielleicht ein bisschen versnobt. Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn mich eine Firma bitten würde, Schrauben zu entwerfen. Als ich jünger war, wollte ich keine Möbel entwerfen, sondern Griffe, Werkzeuge, solche Sachen. Aber als freiberufliche Designerin kommt man nur schwer hinein in diese Branchen.

Wie lange hat es überhaupt gedauert, bis Sie sich als freiberufliche Designerin etabliert hatten?
Das hat mindestens fünf Jahre gedauert, eigentlich sogar länger. Und lange habe ich mit Unterrichten und Workshops mehr verdient als mit Produkten und Möbeln. Die Designbranche ist oft fake, es wirkt, als sei man reich und berühmt, weil die eigenen Entwürfe in der Presse abgedruckt werden. Aber in Wahrheit verkauft man nur drei Exemplare pro Jahr und verdient kein Geld.

Gab es irgendwann den Moment, als Sie dachten: Jetzt habe ich es geschafft?
Nein. Ungefähr alle drei Jahre denke ich, ich sollte aufhören, weil das Einkommen mal wieder zurückgegangen ist. Es ist wirklich kein normaler Job. Aber durch meine Eltern kenne ich das Auf und Ab in kreativen Berufen, seit ich ein Kind war. Wissen Sie, ich werde häufig gefragt, welchen Rat ich jungen Designer*innen geben würde. Es heißt oft, man bräuchte Selbstvertrauen, müsse von der eigenen Arbeit überzeugt sein, aber das stimmt nicht. Der Mangel an Selbstvertrauen lässt einen interessantere Dinge entwickeln. Leute, die großes Selbstvertrauen haben, machen oft langweilige Sachen, wiederholen sich oder kopieren. Weil sie so von sich überzeugt sind, sind sie nicht auf der Suche.

Bilder: Lorraine Hellwig
Illustration: Inga Sempé

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