Der große Bogen von Rennertshofen

In Rennertshofen, 20 Autominuten von Neuburg an der Donau entfernt, das wiederum eine halbe Stunde hinter Ingolstadt liegt, kann man ohne Großstadtstress leben. Das schätzen auch Juliane Lanig und Moritz Schmidt: Das Paar entwirft hier Produkte, die ganzheitlich im besten Sinne sind – unter anderem das MAGAZIN-Bett HANS.

Text: Jochen Overbeck

Schwer zu sagen, wo es in diesem Haus am schönsten ist: vielleicht unten, in den Kellerräumen. Hier stehen die Holzmaschinen, darunter die schwere Drechselbank, die eigentlich erst den Ausschlag dafür gab, dass Moritz Schmidt und Juliane Lanig mit ihren drei Kindern heute hier leben: Die beiden, damals in München zu Hause, kamen eigentlich nur, weil sie an dieser Maschine interessiert waren. Dann mieteten sie sich kurzerhand ein, um nach einem Jahr schließlich festzustellen: ganz schön hier! Sie kauften das Haus. Womöglich ist es auch im Wohnzimmer am schönsten, wo der Blick fast automatisch in den Garten fällt. Oder aber oben im Arbeitszimmer, unterm Dach, wo Möbelentwürfe und reichlich Skizzen zeigen: Hier wird nicht nur gestaltet. Hier wird auch darüber nachgedacht, was Gestaltung eigentlich ist. Der Bogen reicht dabei weit: Da steht der Prototyp von Schmidts Altar für die Evangelische Kirche im nahen Vohburg („eine wunderbare Aufgabe“) neben der „Blaupause“, einem DIY-Plan für ein Multifunktionsmöbel: „Die haben wir für den ,Artaparat‘ entworfen, einen umgebauten Zigarettenautomaten, wo man für vier Euro Kunst kaufen kann. Mit dem Plan kannst du in den Baumarkt gehen, ihn abgeben und dir die Platten zuschneiden lassen“, erklärt Schmidt.

Natürlich findet sich hier auch ein Modell von HANS, dem Bett, das die beiden für MAGAZIN entworfen haben. Als tatsächliches Möbel taucht HANS im Haus gleich zweimal auf. Im Schlafzimmer ist das Möbelstück Teil eines höchst lebendigen Familienbetts. Als Daybed wiederum schmückt es das Wohnzimmer. Interessant ist dabei, wie unterschiedlich die beiden so ähnlichen Möbelstücke wirken. Das eine erzählt durchaus pragmatisch aus dem Familienalltag; das andere: Nun, es gibt sich nicht vornehm. Aber so, wie es im Raum steht, zeigt es sein Design doch ein Stück selbstbewusster.

Ein Bett – neben Stuhl und Tisch wohl die größte Herausforderung für Möbeldesigner*innen. „Es ist ein Riesenelement im Raum. Ein Bett mit seiner Größe so zu gestalten, dass es formal nie aus der Zeit gerät und unter anderem dadurch zu einem langlebigen Produkt wird, war eine Herausforderung“, sagt Lanig. „Uns war genauso wichtig, dass das Bett auch gut aussieht, wenn es in Benutzung ist. Es ist in sich so ruhig, da kann es gerne auch einmal ungemacht sein“, ergänzt Schmidt. Um das zu erreichen, beschäftigten er und seine Partnerin sich viel mit dem Selbstverständnis des Möbels. „Es besitzt einerseits eine schlichte Ausstrahlung, gleichzeitig spielen wir mit den Grundformen und verwenden verschiedene Materialien. Das bringt fast so etwas wie Irritation rein.“ Die Materialien, das sind beschichtetes Sperrholz, Stahlblech und Stahlrohr; in Sachen Form trifft Fläche auf Zylinder. Man kann da Verbindungslinien zur HfG Ulm spinnen, vielleicht auch zu Wassily Kandinskys Bauhaus-Primärformen Kreis und Quadrat, aber eigentlich spricht HANS eine sehr eigene Sprache. Und die hat eine Menge mit seinen Gestalter*innen zu tun.

Die Idee des Produktdesigns versehen die beiden mit einigen Fußnoten, die sich aus ihren Biografien erklären. Beide lernten sie zuerst verarbeitende Handwerke – und beide studierten sie später an der Hochschule für Gestaltung in Schwäbisch Gmünd; Moritz Schmidt Produktgestaltung und Juliane Lanig visuelle Kommunikation. Lanig arbeitete in den letzten Jahren viel als Grafikgestalterin: eine Tatsache, die durchaus auch auf die Entwürfe des Paares einzahlt. Schmidt überlegt: „Vielleicht ist das auch Typsache, aber Julianes Blick auf die Dinge ist ein ganz anderer als bei mir. Klarer, harmonischer. Bei mir ist die Grundidee zunächst die Funktion.“ Lanig fügt an: „Ich bin dagegen schon ganz froh, wenn bereits was da ist. Ich schaue dann immer eher zweidimensional drauf. Das ist so eine Art Pingpong.“

Gestaltungs-Pingpong

Wohlgemerkt ein Pingpong, das die beiden nicht gegen-, sondern miteinander spielen und in das noch eine weitere Sache einfließt: Beide setzten sich schon während ihrer Studienzeit intensiv mit Nachhaltigkeit im Design auseinander. Schmidt stieß während eines Austauschsemesters in Carlow 2011 auf die Disziplin Sustainable Design; Lanig fing in Schwäbisch Gmünd an, zu den Thesen des Thinktanks Club of Rome zu forschen; beide schrieben sie Abschlussarbeiten zum Thema; Lanig beschäftigt sich zudem intensiv mit Permakultur, einem Konzept von Landwirtschaft und Gartenbau in natürlichen Kreisläufen. Diese Ideen sind mit einem beglückenden Selbstverständnis Teil eines Alltags, in dem sich kleine und große Ideen, konkrete Aufträge und weiter in die Ferne gerichtete Überlegungen verschränken. Eingangs erwähnte „Blaupause“ ist so ein Fall. Was zunächst wie eine kleine Spielerei wirkt, die in eine ähnliche Kerbe schlägt wie Enzo Maris „Autoprogettazione“-Entwürfe aus dem Jahr 1974 oder aktueller Van Bo Le-Mentzels „Hartz-IV-Möbel“, besitzt eine zweite Ebene: Die beiden wollen das DIY-Prinzip um eine ökologische Komponente erweitern. „Wie können wir es schaffen, dass bereits vorhandene Materialien zu ernsthaften Serienprodukten werden, die nicht diesen Recycling-Charakter ausstrahlen? Das reizt uns sehr.“

Urban Mining ist ein Begriff, den Schmidt gerne verwendet. Aber auch der Ausdruck der Permakultur greift, wenn es um die Arbeit der beiden geht. Wie das im Kleinen funktioniert, zeigt sich bei einem ihrer neuesten Produkte: einer Obstschale aus Fichtenholz, die aus Abschnitten einer Zimmerei entsteht. Schön liegt sie in der Hand, strahlt eine ungemeine Ruhe aus. Aber auch bei einem Rundgang durch ihr Haus wird klar: Der Begriff des Designs erschöpft sich bei den beiden nicht darin, Produkte zu entwerfen und dann bei irgendwelchen Herstellern zu pitchen. Viel eher trifft Pragmatismus auf die Bemühung um größtmögliche Nachhaltigkeit. Die zentralen Fragen sind hier im Kleinen dieselben wie im Großen: „Wie rezyklieren wir Ressourcen; wie gehen wir mit sämtlichen Energien um, die wir zur Verfügung haben?“, erklärt Schmidt.

Der Garten als Design-Labor

Vieles wird und wurde neu gemacht; aber immer mit Augenmaß. Das Küchenwaschbecken etwa leistete bereits bei den Vorbesitzern seinen Dienst, es war noch völlig in Ordnung; Schmidt integrierte es in seinen neuen Küchenentwurf. Auch die Fliesen in Küche und Bad durften bleiben; unter anderem wegen einiger Details. „Siehst du die abgerundeten Abschlusskanten an der obersten Fliesenreihe? Das macht heute kein Mensch mehr so. Da haut man jetzt diese Edelstahlleisten drauf, weil das ,sauberer‘ ist.“ Vor allem aber bemerkt man: Design ist immer dann am besten, wenn es aus einem Bedürfnis heraus entsteht. Und: Design steht immer in Bezug zu dem, was schon existiert. Da ist etwa der Stehtisch im Wohnzimmer, ein wenig sieht er aus wie ein Tresen, gleichzeitig passt er hervorragend zu den Bücherregalen von Schmidts früherem Arbeitgeber Nils Holger Moormann, die den Raum prägen. „Wir haben ihn für meinen 40. Geburtstag gebaut“, sagt Schmidt. „Aber eigentlich ist er ganz praktisch, wir nutzen ihn mittlerweile auch für Besprechungen.“ Das schmiedeeiserne Treppengeländer, das ins Obergeschoss führt, hatte einen verdeckten Lauf. Als die Kunststoffbeschichtung entfernt wurde, kam ein leuchtend orangefarbener Schutzlack zum Vorschein. Der gefiel den beiden so gut, dass er bleiben durfte. In den Garten zeigt ein großes Panoramafenster, das gleichzeitig als Sitzplatz dient: „Der Garten ist für uns wichtig. Er ist ein Rückzugspunkt. Er erdet uns aber auch und hilft uns bei der Selbstversorgung“, sagt Lanig.

Es stimmt schon, dieser Garten erdet tatsächlich. Und er ist auch so etwas wie ein Design-Labor; der verantwortungsvolle Umgang mit Ressourcen, der sich durch die beiden Biografien zieht, findet hier vielleicht seinen Höhepunkt. Eine alte Waschmaschinentrommel wurde vor dem Haus vergraben, sie ist ein Mini-Gemüsekeller. Die alten Dachpfannen, die die Baufirma eigentlich schreddern wollte, haben ebenfalls eine neue Bestimmung gefunden: Sie wurden zu einer Begrenzung für ein neues großes Beet, keck blinzeln sie an der Böschung der Terrasse aus dem Erdreich. „Wir finden die Textur total spannend“, erklärt Juliane Lanig: „Aber gleichzeitig haben diese Ziegel auch einen Nutzen: Sie erwärmen sich in der Sonne und damit auch das Erdreich dahinter. Ein weiterer Hintergedanke ist, dass das gleichzeitig Lebensraum für Insekten wird.“ Als Nächstes kommen ein paar Hühner dazu, dann gibts eigene Eier. Soll noch mal jemand sagen, in Rennertshofen wäre nichts los.

Lanig & Schmidt

Moritz Schmidt und Juliane Lanig lernten sich 2009 während ihres Studiums an der Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd kennen und leben heute mit ihrer Familie im oberbayerischen Rennertshofen. Seit 2013 arbeiten die beiden gemeinsam an verschiedenen Projekten, ihr Credo dabei: die Verbindung von Gestaltung und Nachhaltigkeit. Für Magazin gestalteten sie Bett und Daybed HANS.

6 Fragen an Lanig & Schmidt

Wohin würdet ihr gerne einmal reisen?

Was ist euer Lieblingswerkzeug?

Worauf könntet ihr leicht verzichten?

Welche Superkraft hättet ihr gerne?

Sammelt ihr irgendetwas?

Was wolltet ihr immer schon mal machen?

Bilder: Lena Giovanazzi
Illustartionen: Juliane Lanig und Moritz Schmidt

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