Das Haus Europa
Warum die regionale Produktion wiederkommt
Lange Zeit galt es als ausgemacht: Günstige Produkte kommen aus dem Ausland. Oft genug war das auch der Grund dafür, internationale Lieferketten zu erschließen. Der Krieg in der Ukraine und die Corona-Krise haben gezeigt, wie verwundbar unsere Wirtschaft ist. Können wir uns aus diesen Lieferketten lösen? Wie steht es um den Innovationsstandort Europa? Welche Vorteile bietet es, in der Nähe zu produzieren? Und wie beeinflusst das alles unsere Kaufentscheidungen? Eine Bestandsaufnahme.
Text: Jochen Overbeck
Traditionen umarmen
Der erste hat viel mit Identifikation zu tun. Wir haben ein Bild vor Augen, wenn wir an europäische Produkte denken. Eine italienische Hutfabrik. Eine Glasbläserei in Finnland. Ein Automobilhersteller in Deutschland: Wir wissen um Geschichte und Tradition dieser Firmen. Der Hut aus den Marken ähnelt immer noch jenem, den vor 100 Jahren die Arbeiter*innen auf dem Feld trugen. Das Glas aus Finnland ist ein Entwurf, der schon in den 1950er-Jahren bei der Mailänder Triennale reüssierte. Gleichzeitig entwickeln sich die europäischen Unternehmen weiter: Der Autohersteller aus Deutschland stand vor 50 Jahren für Autos, die liefen, liefen und liefen. Und heute? Gilt er als weltweit geschätzter Innovationstreiber. All diese Beispiele zeigen, wie sich in Europa vielfach Tradition und Fortschritt verschränken und unsere Identität mitdefinieren. Manchmal allerdings gehen wir auch unserem Eurozentrismus auf den Leim. Denn trotz der Billigware, die uns Tag für Tag von Anzeigen auf Facebook, Instagram und Co. entgegenspringt: Es ist mitnichten so, dass ein in Asien hergestelltes Produkt automatisch schlechter sein muss als ein europäisches.
Norm und Nachhaltigkeit
Aber wir vertrauen zu Recht dem, was wir zu kennen glauben. Die Fertigung in Europa folgt einem gemeinsamen Wertekanon, der sich in gewissen Normen manifestiert hat. Diese betreffen Produkte – etwa deren Energieeffizienz oder Materialität –, aber auch die Umstände ihrer Herstellung. So gibt es in 21 von 27 EU-Ländern einen gesetzlichen Mindestlohn, in der ganzen Union gilt das EU-Lieferkettengesetz. Es soll sicherstellen, dass Menschenrechte und Umweltschutz-Vorschriften eingehalten werden. All das liefert uns Bürger*innen Sicherheit und Verlässlichkeit bei Kaufentscheidungen. Der dritte Grund ist mit den ersten beiden verwandt: Meist ist ein in der Nähe gefertigtes Produkt nachhaltiger. Kürzere Transportwege verringern Lieferzeiten und senken die CO2-Bilanz eines Produktes. Kommunikation und Qualitätssicherung sind einfacher, was zu einer verlängerten Lebensdauer führt. All das sind keine neuen Gedanken. Aber sie waren lange Zeit nur für einen kleinen Teil deutscher Unternehmen relevant, hieß es doch spätestens ab den 1990er-Jahren häufig: Gut ist, was Kosten spart. Und Kosten spart man, wenn man dort einkauft oder produziert, wo es günstig ist. Geiz ist geil, viele werden sich erinnern.
Traditionelle europäische Handwerkskunst: Glasbläserei
Automatisierte Fertigung kann auch in Europa funktionieren
Ungewohnte Erfahrung: leere Supermarktregale
Die brüchige Gegenwart
Wie brüchig dieses Modell ist, zeigen die Krisen der vergangenen drei Jahre: Auch wer nicht um die großen Warenströme weiß, wird die kleinen Meldungen gelesen haben. So war etwa Apple im November 2022 dazu gezwungen, auf seiner Homepage eine Mitteilung zu schalten: Aufgrund von Covid-19-Einschränkungen im chinesischen Zhengzhou waren die Auslieferungsmengen des iPhone14 geringer als prognostiziert. Auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wirkte sich auf den Handel aus: Viele Handelsrouten führten durch Russland, Weißrussland und die Ukraine. Produkte kamen zu spät oder gar nicht. Unmittelbarer sind die Folgen, wenn es um Waren aus den beteiligten Ländern geht: So sahen sich etwa Deutschlands Winzer*innen nach dem Beginn des Krieges mit steigenden Glaspreisen konfrontiert: Das Glas stammte häufig aus der Ukraine. In anderen europäischen Ländern produziertes Glas wiederum wurde durch die gestiegenen Energiepreise noch teurer als bisher. Auch die Papier- und Holzpreise sowie jene für Industriemetalle gerieten unter Druck. Große Handelsketten stellten angesichts dieser Kostenexplosion bisher für unumstößlich gehaltene Praktiken infrage – etwa jene der millionenfach gedruckten wöchentlichen Werbeprospekte. Ein anderes Unglück unterstrich ebenfalls, wie sehr wir am Tropf der internationalen Warenwirtschaft hängen: Im März 2021 lief der Containerfrachter „Ever Given“ im Suezkanal auf Grund. Der Kanal erwies sich als – jetzt verstopftes – Nadelöhr. 422 Schiffe standen rund um diese wichtigste Passage der internationalen Seefahrt im Stau. Das verspätete Löschen der Waren wirkte noch Monate nach und stellte Häfen und Speditionsgewerbe vor immense logistische Herausforderungen.
Zurück auf Los
Eines der stärksten Bilder zu dem Unglück zeigte einen Bagger, der neben dem großen Frachter aussah wie ein oranges Kinderspielzeug. Das Baugerät und der Riesenpott wurden rasch zu einem Meme: Hakt ein Zahnrad, steht die gesamte Maschinerie der Weltwirtschaft still. Die schlechte Nachricht: In den nächsten Jahren wird sich an dieser Situation vermutlich nicht viel ändern. Oder ist das eigentlich eine gute Nachricht? „Die Unternehmen müssen umdenken“, schrieb das „Handelsblatt“ schon 2021, weiter: „Der Welthandel ist fragil geworden, – es zerplatzt gerade die Illusion, dass jedes Produkt an jedem Ort minutengenau verfügbar ist.“ Dieser Krise entwachsen tatsächlich neue Chancen. Ein Begriff, der zuletzt immer häufiger auftauchte, ist „Reshoring“. So nennt man die Verlagerung von Produktionsstätten zurück nach Europa. Dass Reshoring zum Thema wurde, hat nicht nur mit erwähnten Unwägbarkeiten zu tun, sondern auch mit gestiegenen Transportkosten. Diese wiegen finanzielle Vorteile in anderen Bereichen rasch auf, etwa bei der Entlohnung.
Ein gemeinsames Klingelschild
Die EU arbeitet in der Zwischenzeit mit Hochdruck an einem „Made in Europe“-Programm. Es ist vor allem eine Antwort auf den US-amerikanischen „US Inflation Reduction Act (IRA)“, der grüne Technologien innerhalb der USA nach vorne bringen soll. Es geht der EU eher um den Schutz der eigenen Exporte als um eine Stärkung des heimischen Marktes. Das Signet „Made in EU“ besteht übrigens bereits seit 2003, nur verwendet wird es nicht. 2021 machte sich erneut eine Initiative daran, ein entsprechendes Gütesiegel zu installieren. Die Reaktionen der Wirtschaft: zögerlich. Vielleicht vertrauen viele Länder lieber der Strahlkraft der eigenen Marke. Tönt ein unilaterales „Made in Germany“ nicht viel schmissiger? Wer das denkt, dem sei ein Blick in die Geschichtsbücher empfohlen: Diese Herkunftsbezeichnung wurde ursprünglich Ende des 19. Jahrhunderts in Großbritannien eingeführt, um die damals minderwertigen Waren Deutschlands zu kennzeichnen. Deren Qualität besserte sich in den Folgejahren, aber dennoch sind die Trennungsängste der nationalen Industrien verwunderlich, zumindest, wenn wir zum eingangs angesprochenen Bild des europäischen Hauses zurückkehren.
Bilder: Michael Hausmann, iStock; Timo Juntilla; Fertning, iStock; SolStock, iStock
HOMEMADE - SO GEHTS
Ein paar Zahlen: 70 Prozent der europäischen Arzneiwirkstoffe stammen aus China. Ebenso 80 Prozent unserer Laptops, 70 Prozent unserer Handys. Unsere Exporte nach China werden in Deutschland von einer Million Arbeitnehmer*innen gefertigt. Die Abhängigkeiten sind also enorm, einfache Lösungen gibt es nicht. Zeit, dass wir uns auf eigene Fähigkeiten besinnen! Sechs Beispiele für regional hergestellte Produkte und die Geschichte dahinter.
CONTAINER DS
Container DS
Container DS, mit Schloss, RAL 1016 Schwefelgelb
Idee und Entwurf aus der Schweiz, Stahl aus Schweden, Ingenieursgeist aus Polen. CONTAINER DS wird in der Produktionsstätte des Architekten, Erfinders und Entrepreneurs Oskar Zieta in Zielona Góra, 200 Kilometer entfernt von Berlin, hergestellt. Eine smarte Produktion, Zulieferer in der Nähe und engagiertes Unternehmertum lassen ein innovatives Schrankmöbel entstehen.
STUHL-SERIE REX
Stuhl-Serie Rex
Armlehnstuhl Rex, Grau / Schwarz / Schwarz
Aus recyceltem Polycaprolactam (PA6) und retourenfähig! Das sind markante Merkmale des Stuhls REX von Ineke Hans. Die aus einem Rezyklat produzierten Stühle können am Ende ihres Lebenszyklus direkt an den niederländischen Hersteller CIRCUFORM retourniert werden. Mit diesem geschlossenen Kreislauf setzt der Hersteller einen neuen Maßstab für den Umgang mit Kunststoff.
Schlafsofa Nova
Schlafsofa Nova
Schlafsofa Nova
Von SOFTLINE, auf der dänischen Insel Fünen zu Hause, stammt das Schlafsofa NOVA. SOFTLINE ist einer der Marktführer für die Verarbeitung von hochwertigen Polsterschäumen. Im Stammwerk in Maribo wird die komplette Polsterarbeit erledigt, mit innovativen Materialien experimentiert und an nachhaltigen Lösungen geforscht. Beispielweise werden seit geraumer Zeit wasserlösliche und lösungsmittelfreie Kleber genutzt. Die Holzgestelle des umfangreichen Sortiments stammen aus nachhaltiger Forstwirtschaft in Schweden. Die Zusammenarbeit mit Zulieferern aus Polen, Italien und Tschechien macht SOFTLINE zu einem wirklich europäischen Hersteller.
Schneidemaschine Icaro7
Schneidemaschine Icaro7
Schneidemaschine Icaro7
Küchen- und Haushaltsgeräte finden oft den Weg aus asiatischer Fertigung zu uns. Anders bei den Geräten der RITTERWERKE, 1905 im bayerischen Gröbenzell gegründet. Hier beschränkt man sich nicht auf Entwurf und Endmontage von in Asien gefertigten Bauteilen – hier wird in der kompletten Fertigungstiefe in der deutschen Provinz produziert. Das fest in der Firmenphilosophie verankerte „Made in Germany“ sichert und schafft Arbeitsplätze, garantiert hohe Qualitätsstandards, Reparaturfähigkeit, einen funktionsgerechten Materialeinsatz sowie eine klare Gestaltungssprache.
Geschirr-Serie Shiro
Geschirr-Serie Shiro
Geschirr-Serie Shiro, Dessertteller
Die Geschichte der Porzellanherstellung in Deutschland ist facettenreich, geprägt von langer Tradition im manufakturellen wie im industriellen Bereich. Doch in Zeiten sich verändernden Konsumverhaltens erlebten die Porzellanunternehmen bereits tiefe Krisen. SCHÖNWALD heißt die Marke, die seit etwa 150 Jahren am Standort in Oberfranken Hartporzellan vornehmlich für den Einsatz in Hotel und Gastronomie produziert. Die Geschirr-Serie SHIRO bricht dank einer Vielzahl neuer Formen und Einsatzmöglichkeiten mit Konventionen des klassischen Porzellans. Ein innovatives Produkt, das bei SCHÖNWALD in einer modernen Produktionsstätte hergestellt wird.
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Die Globalisierung, so sagt Stefan Diez, ist nicht per se etwas Schlechtes. Aber wenn sie nur dazu führe, günstig zu produzieren, verhindere sie Innovationen und zerstöre das Know-how der einheimischen Betriebe.