Ein Element, endlose Möglichkeiten

1HOCH3 ist ein Regal, das auf die Essenz reduziert ist – und das gleichzeitig über sich hinauswachsen kann. Anlässlich des 20. Geburtstags des MAGAZIN-Regalsystems haben wir Designer Dominik Lutz besucht und uns die Geschichte des Entwurfs erzählen lassen.

Text: Jochen Overbeck

Dominik Lutz sitzt in seinem Studio in Hamburg am weißen Besprechungstisch. Der Designer – groß gewachsen, wacher Blick, schwarze Architektenbrille – hat etwas vorbereitet. Die Platten, die sauber aufgereiht vor ihm auf dem Tisch liegen, geben einen Einblick in die Evolution von 1HOCH3. Die ersten Prototypen wirken noch sehr simpel, fast plump. Breite MDF-Platten, wenn man die miteinander verbinden will, braucht es Schmackes. Aber schon die zweite Variante ist deutlich als der Urahn des Regals erkennbar. Die Verbindungsdetails sind noch anders, auch die Ecken der Platten sind noch nicht abgerundet, aber die Idee, sie ist sofort erkennbar: 1HOCH3 ist ein Regalsystem, das nicht nur seitlich und nach oben erweiterbar ist. Durch das Stecksystem lässt es sich auch in die dritte Dimension, in den Raum, hineinbauen.

Wenn die Käufer*innen das möchten, wächst dieses Regal über sich hinaus, Brett für Brett, Fach für Fach. Dennoch nimmt es sich in seinem Ausdruck zurück, überlässt die Bühne bereitwillig den Dingen, die es verstaut oder präsentiert – und das seit 20 Jahren. Dafür nutzt es ein denkbar einfaches, flexibles System: 1HOCH3 ist im Prinzip eine einzelne Platte aus Schichtholz, die über zwei Aluprofile verfügt. Dank dieser lässt es sich in kurzer Zeit ohne Werkzeug in zahlreichen Varianten auf- und wieder abbauen. Pro Fachreihe benötigt es lediglich eine Rückwand. Fertig. Wenn Dominik Lutz in seinem Studio da schiebt und steckt und klopft und erklärt, wie lange es dauerte, bis aus der losen Idee der Verbindung durch Nut und Feder das fertige Produkt wurde, dann erkennt man schnell: Das Einfache kann ganz schön kompliziert sein. Und man erkennt eine weitere Sache; eine, die gerne vergessen wird. Ein*e Designer*in sorgt nicht nur dafür, dass ein Objekt eine schöne Gestalt besitzt. Wichtiger ist, dass ein Objekt funktioniert.

Aber beginnen wir am Anfang: Wie so oft war der Weg des Gestalters zum Produkt einer, der einige Umwege bereithielt. Doch diese erhöhen bekanntlich die Ortskenntnis. Bei Dominik Lutz begann alles mit einer fixen Idee. Nämlich der eines Regals, das aus einem einzigen Element besteht. „Mich hat damals interessiert: Wie kann ich mich als Gestalter komplett zurücknehmen? Wie organisiere ich stattdessen ein einzelnes Teil im Raum so, dass eine erweiterbare Struktur entsteht?“ Der Grundgedanke war also klar. Aber wie daraus ein handhabbares Produkt wird, diese Frage blieb erst einmal offen. In einer schlaflosen Nacht in einer Hängematte auf den Andamanen kam die Eingebung. Wie muss das Plattenelement gestaltet sein, dass das gleiche Bauteil mit Nuten und Federn auch als Rückwand eingesetzt werden kann. Und zugleich die notwendige Diagonalsteifigkeit des Regals gesichert ist. Ein älterer Regalentwurf, bei dem bereits Fachboden und Seitenwand aus gleichen Bauteilen bestanden, hatte Lutz auf die Spur gebracht. Gedanklich war das Problem zwar gelöst. Aber der quälende Schwebezustand, ob dieser Lösungsansatz wirklich funktionierte, blieb bis zum Ende der Reise.

Erst zu Hause im Büro konnte Dominik Lutz seine Idee am Rechner überprüfen – und sie funktionierte. Am Ende war alles ganz einfach. Ein Plattenbauteil mit zwei Standard-Aluminium-T-Profilen. Die Platte gefräst und geschlitzt. Die Aluminium-T-Profile eingesetzt. Fertig. Bei MAGAZIN war man von diesem Designansatz begeistert – und ist es bis heute: Seit 20 Jahren ist 1HOCH3 ein Dauerbrenner im Sortiment der selbstentwickelten Produkte. Rückblickend resümiert Dominik Lutz: „Es war schon ein großes Glück, dass wir vor 20 Jahren zusammengefunden haben. Für ein erfolgreiches Produkt muss am Ende viel passen. Der Entwurf. Der richtige Hersteller und der richtige Zeitpunkt.“ Im Laufe der Zeit erfuhr das Regal einige Erweiterungen. Keine prinzipiellen Veränderungen im System, eher Fußnoten, die aus einem radikalen Möbel eines machen, das radikal und dazu praktisch ist. So hat das Regal Füße bekommen, die Dominik Lutz eigentlich nicht vorgesehen hatte. Gerade für Altbauwohnungen mit Balkendecken und unebenen Böden sind sie aber essenziell. Ein weiteres Beispiel dafür, dass der Teufel bisweilen im Detail steckt: Die Füße müssen am Rand des Regals ebenso passgenau sitzen wie in dessen Mitte. „Das klassische Eckproblem vom griechischen Tempel. Da sind die äußeren Säulen auch ein Stück weit eingerückt“, sagt Lutz. Seit einigen Jahren ist zudem ein doppelt so langes Brett im Programm, das den Kund*innen weitere Gestaltungsmöglichkeiten bietet. Eine andere Ergänzung ist ein Geschenk zum 20. Geburtstag. Doch auch dabei bleibt das Regal zurückgenommen: Statt einer zusätzlichen Farbe glänzen bei der „Gold-Edition“ lediglich die Profile in einem dezenten Gold.

Übrigens: Der Weg bis zu dem Regal, wie es heute im Sortiment zu finden ist, verlief nicht ohne Hindernisse. Denn gerade bei einem einfach erscheinenden Konstruktionsprinzip wie dem des 1HOCH3 muss alles stimmen. Und bis alles stimmt, dauert es manchmal etwas länger. So waren bei den ersten Entwürfen die Alu-Profile mit den Holzplatten verschraubt. Bis zum Verkaufsstart hatte man sich aber dafür entschieden, Regalbrett und Profil zu verkleben – sieht doch viel schöner aus! Allein, die Haltbarkeit ließ zu wünschen übrig – und das, obwohl man die Belastbarkeit mit der gebotenen Sorgfalt getestet hatte! „In meiner Erinnerung stand in dem ersten an mich weitergeleiteten Bild eines kaputten 1HOCH3 eine edle Vase“, sagt Dominik Lutz und lacht. Die Ursache des Problems war rasch klar: Die Verklebung von Brett und Profil war nicht korrekt ausgeführt worden. Schließlich entschied man sich dafür, die beiden Bestandteile mit Bolzen zu verbinden – ein Lehrstück in Sachen Produktentwicklung am lebenden Objekt. Um das Regalsystem heute ernsthaft zu beschädigen, müsste man schon brachiale Gewalt anwenden. „Wenn beim Aufbau des Regals mal ein Brett umfällt oder abkippt, darf es ja nicht kaputt gehen!“, sagt Lutz. Auch bei der Farbe ging man noch einmal ran: Das ursprüngliche Braun wurde gegen weißes Melamin ausgetauscht. Und, auch nicht unwichtig, heute wird FSC-zertifiziertes Holz verwendet, also Holz aus verantwortungsvoll bewirtschafteten Wäldern.

Wie gesagt: 1HOCH3 kann über sich hinauswachsen. Dann ergeben sich mit einer in die Tiefe verdoppelten Struktur weitere Möglichkeiten. Wie das aussieht, zeigt etwa ein Rundgang durch das Büro seines Gestalters: Hier wird es zum Beistelltisch und zum Raumtrenner, der in beide Richtungen Platz für Bücher und Kleinigkeiten bietet. Gerne dient es auch als Impromptu-Arbeitstresen: Die Kaffeetasse abstellen, anlehnen. Einen kurzen Schwatz halten, wieder abtauchen und weiterarbeiten. Und so steht 1HOCH3 als bewährtes Produkt nicht nur in zahlreichen Privathaushalten und im Studio seines Erfinders. Auch Designbüros und Verlage haben sich komplett mit dem System ausgestattet.

Wer bei Dominik Lutz im Regal stöbert, erkennt übrigens rasch, woher dessen Designansatz kommt. Es ist eine Trias, die er als Haupteinflüsse nennt. Sein Professor Lambert Rosenbusch ist der wichtigste darin – und auch der Gestalter, dessen Philosophie am deutlichsten aus 1HOCH3 spricht. „Er öffnete für mich einen ganz anderen Blick auf die Welt. Ihm war wichtig, dass man die Dinge aufmisst, dass man sich mit Architektur und mit Formensprache auseinandersetzt. Daraus hat er dann eine eigene Gestaltung abgeleitet.“ Zweiter im Bunde ist Alfredo Häberli, bei dem Lutz 2001 arbeitete. Bei ihm schätzt Lutz die Begeisterung für die Form, die eigene Handschrift und die Arbeit an der präzisen Handzeichnung. Dazu kommt Franco Clivio. Begeistert blättert Lutz durch dessen Standardwerk „Verborgene Gestaltung“, ein Kompendium des gelungenen Alltagsdesigns. Wo wir gerade bei großen Namen sind: Lutz ließ 1HOCH3 anfangs patentieren. Wenn etwas patentiert wird, wird ein sogenannter Recherchebericht erstellt, in dem Referenzen und vergleichbare Projekte aufgelistet werden. In dem zu 1HOCH3 tauchte unter anderem ein Regal von Enzo Mari aus dem Jahr 1967 auf. Der Querverweis auf den großen italienischen Gestalter gefiel Dominik Lutz natürlich ganz gut.

Dominik Lutz

Dominik Lutz wurde 1974 in Stuttgart geboren. Er studierte an der HfBK Hamburg Industriedesign und arbeitet seit 2002 als freier Gestalter. Für MAGAZIN entwarf er neben 1HOCH3 auch noch TSCHUTSCHU, ein Spielmöbel für Kinder ab drei Jahren. Zwischendurch unterrichtet er immer wieder, etwa an der HfBK, der AMD Akademie Mode & Design Hamburg und der Zeppelin-Universität Friedrichshafen

Bilder: Angela Simi

Regalsystem 1hoch3

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