Altern erwünscht!
Bei Vintagemöbeln ist sie willkommen, bei Gegenständen aus Kunststoff eher nicht: Patina erzählt Geschichten vom Vergangenen und stärkt unsere Bindung an Objekte. In Gestaltung und Architektur kann sie zum Nachhaltigkeitsfaktor werden: Sehen wir Spuren des Gebrauchs und der Alterung als etwas Positives, nutzen wir die Dinge länger.
Text:Jasmin Jouhar
Patina muss man aushalten können. Wenn das blinkende Silberbesteck matt wird und der goldglänzende Messingleuchter dunkel anläuft, greifen viele zu Polierpaste und Putztuch und wienern, bis die guten Stücke wieder wie neu strahlen. Das Internet ist voll von Tipps und Tricks, wie die Oberflächen möglichst mühelos blank zu kriegen sind. Fliesen aus Feinsteinzeug oder Naturstein, Fußböden aus PVC oder Linoleum, Küchenarbeitsplatten aus Kunststoff oder Holz? Einrichtungsentscheidungen werden häufig in der Annahme getroffen, ein Material sei „pflegeleicht“ und unempfindlich. Was damit tatsächlich gemeint ist: Sein Erscheinungsbild verändert sich auch über
längere Zeit möglichst wenig. Spuren des Gebrauchs lassen sich entweder vermeiden oder leicht wieder entfernen – das Material altert nicht, jedenfalls nicht sichtbar. Dass alle Dinge unweigerlich Veränderungen ausgesetzt sind, dass um uns herum permanent der Verfall am Werk ist, möchten wir nicht auch noch vor Augen geführt bekommen – wenn wir es schon am eigenen Leib spüren. So funktioniert die Konsumgesellschaft: Sobald Dinge altern, verlieren sie an Wert. Bestes Beispiel ist das Auto, das ein Jahr nach dem Kauf bereits ein Viertel weniger wert ist. Und sind das Auto, die Jacke, das Sofakissen nicht mehr top in Schuss, werden sie durch etwas Neues ersetzt. Die industrialisierte Massenproduktion machts möglich. Kontinuierliche Nachfrage hält die Wirtschaft am Laufen, bis hin zu den absurd kurzen Lebenszyklen der Smartphones. Durch den steten Strom von bezahlbaren Waren verwöhnt, haben wir verlernt, das Altern auszuhalten. Und den Verfall als unvermeidlichen Teil der Dingwelt zu akzeptieren.
Das Gefühl des gemeinsamen Alterns
Dabei ist Patina eine Frage der Perspektive: „Wir schätzen es, dass man Objekten ihren Gebrauch ansieht und sehen es als Kompliment für das jeweilige Produkt“, sagt Sarah Meyers. „Patina erzählt eine Geschichte vom Vergangenen – dem nicht mehr Vorhandenen. Material lebt mit dem Menschen und durch den Kontakt mit ihm“, so die Gestalterin weiter. Meyers führt gemeinsam mit Laura Fügmann seit 2015 das Designstudio Meyers&Fügmann in Berlin. Seit einigen Jahren erforschen die beiden Alterungsprozesse von Textilien und machen diese Prozesse zum Teil ihrer Gestaltung. Sie kalkulieren bewusst ein, dass natürliche Garne wie Wolle unter Einfluss von UV-Strahlung ausbleichen können, während synthetische Garne „lichtecht“ sind, also kaum an Farbintensität verlieren. Meyers&Fügmann entwickeln „Slow Patterns“, das sind Wohntextilien mit eingewebten Mustern, die erst mit der Zeit sichtbar werden. Wenn die Wollfasern eines Vorhangstoffs im Sonnenlicht ausbleichen und so ein Kontrast zu den synthetischen entsteht, beginnt sich das nach der Produktion lediglich latente Muster abzuzeichnen, fast wie bei der Belichtung eines Fotos in der Dunkelkammer. Der Prozess dauert je nach Intensität der UV-Strahlung unterschiedlich lange. „Es gefällt uns sehr, dass die Geschwindigkeit, mit der die Veränderungen passieren, von Ort zu Ort, je nach Sonneneinstrahlung und Fensterqualität, stark variieren. Das ist das Tolle an dem Prozess, das Licht zeichnet individuelle Bilder!“, sagt
Sarah Meyers.
Wie Textilien altern – auf dieses Thema sind Meyers&Fügmann gekommen, als sie sich mit Nachhaltigkeitsfragen beschäftigten. Ein Faktor, wenn es um die Verträglichkeit von Produkten geht, ist Langlebigkeit. Vereinfacht gesagt: Je länger ein Ding in Gebrauch ist, desto weniger fallen die Auswirkungen seiner Herstellung und seiner Entsorgung ins Gewicht. „Viele Designer*innen behaupten, dass ihre Produkte nachhaltig sind, da sie lange gewertschätzt werden“, sagt Sarah Meyers. „Das hat uns dazu gebracht, über eine Langlebigkeit, die Veränderung einschließt und auf dem Gefühl des gemeinsamen Alterns basiert, nachzudenken.“ Mit ihren „Slow Patterns“ machen die beiden den unvermeidlichen Alterungsprozess nicht nur sichtbar und damit bewusst. Sie inszenieren ihn als Teil der Gestaltung und verleihen ihm einen eigenen ästhetischen Wert. Die Textilien werden nicht etwa mit der Zeit unansehnlich – im Gegenteil, erst durch das Ausbleichen entwickeln sie ihre ganze Schönheit. Und weil die Nutzer*innen als Zeug*innen dieses Prozesses eine emotionale Bindung zu den Textilien aufbauen, werden sie, so die Idee, die Stoffe nicht so schnell entsorgen, sondern – im Gegenteil – sie lange in Ehren halten.
Die Spuren von Gebrauch und Alterung mit dem Begriff der Patina positiv zu besetzen – das kennt man vom Handel mit Antiquitäten und sogenannten Vintage-Möbeln. Patina gilt hier als Ausweis von Alter und damit von Echtheit. Lederpolster dürfen nachgedunkelt sein und Flecken haben, auch Kratzer oder kleine Schäden in Holzoberflächen werden geduldet. Weil Patina in diesem Fall wie ein Beweismittel funktioniert, kann es auch schon mal vorkommen, dass nachträglich etwas nachgeholfen wird. In den Disziplinen der Denkmalpflege und Restaurierung wiederum hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass Patina zur Geschichte eines Gebäudes oder Objekts dazugehört und möglichst nicht entfernt wird. Das ist unter Umständen ein Balanceakt, wenn gleichzeitig Schäden repariert werden müssen – wie der Chefrestaurator des Designmuseums Die Neue Sammlung im Interview mit MAGAZIN anhand von Kunststoffmöbeln erklärt (Lesen Sie das ganze Interview mit Tim Bechthold ab Seite 14). Kunststoff ist in Sachen Patina ohnehin ein kompliziertes Material. Denn schön zu altern, wie es gemeinhin heißt, wird eigentlich nur Materialien natürlichen Ursprungs zugestanden. Ob Leder und Holz, ob Marmor oder Kupfer, ob Wolle oder Ton – das sind alles Stoffe, die seit Jahrtausenden zum menschlichen Materialkanon gehören und an deren Alterungserscheinungen wir gewöhnt sind. Kunststoffe dagegen sind in unserem Alltag erst seit etwas mehr als hundert Jahren präsent. Wenn Produkte aus Kunststoff altern, spröde werden, sich verfärben oder zersetzen, dann entsorgen wir sie meistens ziemlich schnell. Da sie oft recht günstig sind, können wir uns das leisten. Patina zu entwickeln, das ist für Kunststoffe noch nicht vorgesehen. Und aus ökologischer Perspektive ist es vielleicht auch nicht wünschenswert: Wenn Kunststoffe zerfallen, entstehen kleine, nicht biologisch abbaubare Partikel – Mikroplastik. Wir beginnen gerade erst zu verstehen, wie umfassend die Auswirkungen der Teilchen auf das Ökosystem und auf unsere eigene Gesundheit sind.
Häuser aus bereits gebrauchten Bauteilen
Die Akzeptanz von Patina, also von sichtbaren Phänomenen des Alterns – ursprünglich bezeichnete der italienische Begriff lediglich eine dünne Schicht auf der Oberfläche eines Materials – für Teresa Hartmann ist diese Akzeptanz Alltag. Die Architektin arbeitet als Materialmanagerin bei Concular. Das Unternehmen hat sich dem zirkulären Bauen verschrieben, es handelt mit gebrauchten Materialien und unterstützt Architekt*innen bei der Planung von Häusern mit wiederverwendeten Bauteilen. Was lässt sich ausbauen und wiederverwerten, was ist zu alt oder abgenutzt und muss entsorgt werden? Da geht es um Fassadenverkleidungen, Türen, Fenster, Systembauteile wie Trennwände oder Doppelböden, Klimaanlagen, aber auch um kleinere Objekte wie Waschbecken, Notausgangsbeschilderungen oder Mülleimer. Hartmann steht im Austausch mit Architekt*innen und berät sie auf der Suche nach Lösungen für kreislaufgerechtes Bauen.
„Wir sind es gewohnt, dass alle unsere Produkte Gebrauchsspuren haben, wir arbeiten mit wiederverwerteten Materialien, die erzählen einfach eine Geschichte“, sagt Hartmann. Für sie ist Patina etwas Positives. Manche Produkte würden durch einen „used look“ erst richtig charmant, wie sie sagt. Als Beispiel nennt die Architektin eine größere Zahl orangefarbener Metallspinde, die sie vor einiger Zeit aus einem Gebäude geborgen hatte. „Wenn die hier und da einen Kratzer haben, sehen die erst richtig schick aus. Das romantisiert die Produkte.“ Falls nötig, bereitet Concular die gewonnenen Materialien vor dem Verkauf auch auf. Fassadenplatten aus Granit können – abgeschliffen und geschnitten – als Fußböden ein neues Leben beginnen. „Stein ist langlebig und lässt sich gut aufarbeiten“, sagt Hartmann. Auch andere natürliche Materialien wie Holz eignen sich ihrer Erfahrung nach zur Wiederverwertung. Doch der Kreislauf lässt sich nicht immer schließen, etwa, wenn es um die Sicherheit geht. So kann Concular beispielsweise Brandschutztüren aus der Zeit vor dem Jahr 2000 grundsätzlich nicht weiterverwerten, sie entsprechen nicht mehr den aktuellen Bestimmungen.
Die Aura der Patina ist für die meisten Kund*innen von Concular aber höchstens ein Nebeneffekt. „Der Faktor Preis ist entscheidend, warum sich Menschen für wiederverwendete Materialien entscheiden“, sagt die Architektin Teresa Hartmann. „Wir achten darauf, dass unsere Produkte günstiger sind als der Neupreis.“ Ein weiterer Treiber für das Bauen mit gebrauchten Materialien sind Nachhaltigkeitszertifikate, wie sie erklärt. Gerade bei größeren Immobilienprojekten sind entsprechende Zertifikate wichtig für die Vermarktung, der Einsatz von zirkulären Produkten wird bei der Zertifizierung entsprechend angerechnet. Das ist auch einer der Gründe, warum das kreislaufgerechte Bauen gerade populärer wird – trotz erheblicher Hindernisse wie fehlender Gewährleistung für die Produkte. Pioniere wie Baubüro in situ aus Basel oder Rotor aus der Nähe von Brüssel arbeiten seit Jahren nach diesem Ansatz und haben mit Wohn- und Gewerbebauten, mit Schulen und Büros vielfach bewiesen: Es geht! Gerade bei kleineren Innenarchitekturprojekten hat sich der Einsatz von Gebrauchtem regelrecht zum Trend entwickelt und wird mit einer eigenständigen „used“-Ästhetik auch gerne gezeigt. Der spanische Gestalter Lucas Muñoz Muñoz etwa hat eine besonders zeitgeistige Form dafür gefunden mit seinen Projekten wie der preisgekrönten Einrichtung des Restaurants „Mo de Movimiento“ in Madrid. Die hat Muñoz Muñoz zu guten Teilen aus im Gebäude bereits vorhandenen Materialien konstruiert. Patina ist hier nicht notwendiges Übel, sondern ästhetisches Alleinstellungsmerkmal. Und so lässt sie sich sehr gut aushalten.
Glanz und Edelrost
Der Reiz des Frischen, Makellosen: Neue Produkte haben eine unwiderstehliche Aura, keine Frage. Doch weil regelmäßiger Gebrauch nun mal seine Spuren hinterlässt, lohnt es sich, darauf zu achten, wie sich Materialien und Oberflächen verändern. Holz beispielsweise vergraut, feuerverzinkter Stahl wird matt, helles Leder dunkelt nach. Sechs Beispiele aus dem MAGAZIN-Sortiment, die beweisen: Patina lässt Produkte schöner altern!
Bilder: iStock, cjmckendry; Pauline Agustoni; Marie Rime; © Concular; Projekt: Poha Preuswald Aachen, Design & Build; Martin Zeller; Ateno_BorjaLlobregat; Gonzalo Machado
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